Erinnerungskultur & Polarisierung

Gedenken und Erinnerung wird nach wie vor in Österreich polarisiert und nicht konstruktiv diskutiert – leider. Konstruktiv wäre es bei Gedenkveranstaltungen, statt Schuldzuweisungen dem Gedanken „Wehret den Anfängen“ zu folgen und konstruktiv zu überlegen, wie das Wiedererstarken von autoritären und faschistischen Gedankengut und Handeln wirksam entgegengetreten werden kann. Oder ist bereits zu viel versäumt worden? Bereits am 27. Jänner 2018 sagte Michel Friedman bei einer Diskussion in Berlin: „Wer bei den heutigen Ereignissen noch von ,Wehret den Anfängen‘ redet im Zusammenhang mit dem, was wir damals erlebt haben, hat überhaupt nichts begriffen. NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, jetzt die AfD, da stelle ich die Frage: Haben wir wirklich den Anfängen gewehrt?“ 
Das DÖW – Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, ERINNERN.AT, die Aktionen „Steine der Erinnerung“ und „Stolpersteine“ liefern tausende Zeugnisse über die Gräuel der Nationalsozialisten in ganz Österreich. Und trotzdem gibt es noch immer Holocaustleugner:innen und Nazi-Anhänger.

Austrofaschistische Diktatur

Deutlich schlechter untersucht als die Nazi-Diktatur in Österreich (1938 – 1945) und weit weniger im kollektiven Gedächtnis Österreichs verhaftet ist die austrofaschistische Diktatur von 1933 bis 1938. Trotz des bereits am 13. März 1978 von Unterrichtsminister Fred Sinowatz (SPÖ) herausgegebenen Erlasses, Zl. 26.951/3-19a/1978 an die Schulen, mit der Aufforderung, „auf die Ereignisse vor und nach dem 13. März 1938 in ausführlicher Weise einzugehen“. Denn, so Sinowatz: „In Österreich hatte man schon seit der Zerschlagung der Demokratie im Jahre 1934 nicht mehr die Luft eines liberalen, demokratischen Rechtsstaates atmen können.“ > siehe dazu den Bericht in Die Presse vom 10. 2. 2010.
Im Februar 2025 ist dazu das Buch „Austrofaschismus und Februarkämpfe“ vom „Bündnis 12. Februar„, bearbeitet von Markus Primus, Anna Rosenberg und Gerhard Wogritsch erschienen.
Der Beitrag „Wie man eine Demokratie demontiert“ beleuchtet, wie innerhalb weniger Monate die Grundpfeiler der demokratischen 1. Republik demontiert wurden. Der Beitrag Die Zerstörung der Demokratie – Österreich in den Jahren 1933–1934“ erschien im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die in der Wienbibliothek im Rathaus vom Herbst 2023 bis März 2024 zu sehen war. Die digitale Version der Ausstellung ist dauerhaft > hier zu sehen.

Neue Erinnerungskultur

Einen Anstoß zu einer neuen Erinnerungskultur oder Gedächtniskultur liefert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann am 20. Dezember 2023 in einem Interview mit der Zeitung DIE FURCHE: Aber wenn das so ist und die Demokratie in Gefahr ist, wie Sie zuvor betont haben: Welche Form von Erinnerungskultur ist dann überhaupt sinnvoll?
Assmann: „Ich sage nicht, dass die bisherige Erinnerungskultur umsonst war. Aber wir sehen jetzt einfach genauer, wie die Lage ist. Es gibt eben viele Menschen, die wollen, dass über das Vergangene nicht mehr gesprochen wird. Und diese Menschen wird man nicht mehr einholen können, da bin ich pessimistisch. Aber diese Gruppen verkörpern nicht den gesamten Trend im Land (Redaktion: Deutschland) – der geht insbesondere bei der jüngeren Generation in die Gegenrichtung. Das muss man dagegenhalten. Und da sind wir wieder beim Problem der Einseitigkeit, die unsere Diskussionen verzerrt. Erst unlängst bin ich auf einen großartigen Satz der philippinischen Friedensnobelpreisträgerin 2021, Maria Ressa, gestoßen. Sie sagte, es sei die Aufgabe eines Diktators, dafür zu sorgen, dass jede Geschichte immer nur eine Seite hat. So funktioniert auch Polarisierung – ganz ohne Diktator! Die Erinnerungskultur könnte dazu beitragen, dass wir unsere Perspektiven erweitern und das, was andere ausgrenzen, mit aufnehmen.“
> zum kompletten Interview